Eine
Rezension von Cristina Tudorica
Berliner
LeseZeichen, Ausgabe 08/01 (Internetausgabe) (c) Edition
Luisenstadt, 2001 www.berliner-lesezeichen.de
Johann
Lippet: Die Tür zur hinteren Küche
Verlag Das Wunderhorn, Heidelberg 2000, 320 S.
Die letzten
Jahrzehnte der rumäniendeutschen Literatur zeichnen sich
hauptsächlich durch Lyrik und Kurzprosa aus. Literaturkritiker
haben häufig über die Gründe dieser Entwicklung gerätselt und eine
wichtige Rolle der sprachlichen Situation zugeschrieben: Das
öffentliche Leben innerhalb des von der rumänischen Sprache
geprägten institutionellen Rahmens - hieß es - ließe sich mit
deutschen Sprachmitteln nicht adäquat erfassen. Namen von
Institutionen und Autoritäten könnten zwar übersetzt werden, würden
aber eine breit angelegte epische Darstellung steril und fremd
erscheinen lassen.
Johann
Lippet gelingt mit seinem Buch Die Tür zur hinteren Küche
ein mehrfacher Durchbruch: Er widerlegt die Hypothese von der
sprachlichen Unzulänglichkeit und legt einen Roman vor, der durch
das gelungene Zusammenspiel von komplexer Thematik und
erzählerischem Können alles andere übertrifft, was die moderne
rumäniendeutsche Literatur auf dem Gebiet der epischen Gattung
hervorgebracht hat. Damit situiert sich der Autor außerhalb der
subjektivistisch-introspektiven Tendenz, die vor allem durch die
Kurzprosa von Herta Müller geprägt wurde.
Das
verbindende Element der Handlung ist die Familiengeschichte der
Lehnerts. Um sie herum webt sich ein Netz von Beziehungen, das
Verwandte, Bekannte, Nachbarn und Freunde einschließt. Anton und
Maria Lehnert kehren 1956 nach überstandener Kriegsgefangenschaft
und Zwangsarbeit mit ihren in Österreich geborenen vier Kindern in
das kleine, 178 Hausnummern umfassende banatschwäbische Heimatdorf
Wiseschdia zurück. Als Anton Lehnert 1985 stirbt, sind die
restlichen Familienmitglieder entweder ausgewandert oder schon
tot.
Das
schrittweise Ableben der banatschwäbischen Bevölkerung wird im
Gesamtzusammenhang der Wertedegradierung in der rumänischen
Gesellschaft der Nachkriegszeit betrachtet. Als einziger
Schriftsteller seiner Generation überschreitet Lippet den Rahmen
der Minderheitenproblematik und stellt die Auswirkungen eines
totalitären Systems auf die Entwicklung von Individuum und
Gemeinschaft, auf die Wechselbeziehung zwischen persönlichem und
kollektivem Schicksal dar, unabhängig von der ethnischen
Zugehörigkeit.
Ein
derartiges ?landübergreifendes? Ereignis ist die 1945 eingeleitete
Agrarreform. Sie hatte Enteignungen bei der Mehrheit und den
Minderheiten als Folge:
?Nun war
die gesamte arbeitsfähige Bevölkerung von Wiseschdia Mitglied der
Kollektivwirtschaft, und aus selbständigen Bauern war eine
Bauernschaft geworden? (S. 45).
Dieser
Prozeß, der nichts anderes als die Zerstörung eines Agrarlandes mit
Tradition bedeutete, wird in seinen folgenschweren Auswirkungen
über den gesamten Verlauf des Romans beschrieben. Die
Zwischenbilanz ist ernüchternd einfach:
?Ein
Großteil der Leute des Dorfes war wohlhabend geworden im Vergleich
zum ersten Nachkriegsjahrzehnt. Sie arbeiteten in der
Kollektivwirtschaft und pflanzten ihr Gemüse für den Export in den
Hausgärten? (S. 159).
Das geschah
in einem Land, wo der Rhythmus des Lebens noch von den
ursprünglichen Naturereignissen bestimmt wurde und wo die Menschen
viel eher den Monat, in dem die Kuh gekalbt hatte, im Gedächtnis
behielten als Gagarins Weltraumflug.
Letzten
Endes geht alles zugrunde, weil es keinem gehört und keiner sich
zuständig fühlt. Eines von vielen Beispielen ist die
Umweltverschmutzung:
?Vier Jungs
in Karls Alter hatten trotz des Verbots ihrer Eltern im Wasserloch
gebadet und einen merkwürdigen Ausschlag bekommen. Der Sumpfteich,
hinter dem Maulbeerwald nach Triebswetter gelegen, war mit den
Jahren durch die Mistbeete, welche die Kollektivwirtschaft an
seinen Ufern anlegte, verseucht worden. Die Jauche hatte das Wasser
bräunlich gefärbt, das Schilfrohr, das früher mal mehr als die
Hälfte der Teichfläche einnahm, war abgestorben, Vögel und Frösche
verschwunden? (S. 172).
Das Leben
wird zum Über-Leben. Das Geld, durch harte Feldarbeit erworben,
reicht kaum für die Befriedigung der Grundbedürfnisse
aus.
Die laut
und stark propagierte Chancengleichheit aller sozialen Schichten
äußert sich unter anderem darin, daß Susanne, der Tochter der
Lehnerts, ein Stipendium für das Studium verweigert wird, weil die
Nebenverdienste ihres Vaters, bezogen auf die LPG-Einkünfte, als zu
hoch eingestuft werden.
Das auf
Unterdrückung und Restriktionen basierende System fordert
regelmäßig seine Opfer: Der Lehrer Jakob Burger erhängt sich aus
Angst, sein Dossier würde überprüft. Der Sohn der Lehnerts stirbt
beim Versuch, heimlich die Grenze zu überschreiten: ?Offiziell war
Kurt Lehnert durch einen Unfall ums Leben gekommen, vom Traktor
überrollt? (S. 194). Anni Faulhaber, Susannes Freundin, wirft sich
vor den Zug. Die einzige Konstante eines von Entbehrungen
gezeichneten Daseins ist die Ausweglosigkeit: ?Sie hatten ein Leben
lang gearbeitet, damit es den Kindern mal besser gehe, und lebten
in der Angst, keine Zukunft mehr zu haben? (S. 193).
Hier ist
ein subtiler Beobachter am Werk, ein Autor, der das erzählerische
Handwerk versteht: Jede Begebenheit, selbst belanglos erscheinende
Vorfälle finden ihre Entsprechung jenseits des oberflächlich ruhig
dahinfließenden Dorflebens im dichten Geflecht politischer,
wirtschaftlicher und sozialer Mißstände. In diesem Umfeld müssen
gewöhnliche Menschen - keine Helden und keine Dissidenten - ihren
Alltag bewältigen. Das bedeutet, daß sie sich häufig in
Grenzsituationen befinden, in denen die Entscheidung für oder gegen
ein moralisch integres Verhalten aus einer Gewissens- zu einer
Überlebensfrage wird. Anton Lehnert richtet sich nach dem
Grundsatz: 'Die sollen machen, was sie wollen, und ich mach, was
ich will? (S. 165). Ein totalitäres System duldet aber keine
Einzelgänger. Symbolisch für Anton Lehnerts kompromißlose Haltung
ist seine Weigerung am Ende des Romans, auf Befehl des Soldaten
stehenzubleiben und sich der Ausweis- und Körperkontrolle zu
unterziehen. Der Schuß tötet ihn, allein sein Ausruf: ?In die
Luft!? (S. 320) ist Ausdruck seines letzten freien
Entscheidungswillens.
Die sich
über drei Jahrzehnte spannende Geschichte schafft gleichzeitig den
Rahmen für eine aufmerksame Beschreibung jener wiederkehrenden
Rituale, die das Leben der schwäbischen Gemeinschaft prägten und
zusammenhielten. Ausführliche Schilderungen einer Hochzeitsfeier
oder des Kirchweihfestes erscheinen als verlängerte Momentaufnahmen
einer untergehenden Welt. Die Minderheitenexistenz hat sich auf
patriarchale, steife Lebensformen reduziert, die das herannahende
Ende hinauszögern, aber keine Grundlage für ein wirkliches Leben
mehr sein können.
Das geerbte
Haus im größeren Nachbarort Biled haben die Lehnerts verkauft und
damit auch den Gedanken aufgegeben, dahin überzusiedeln: Ein Radio
hatten sich die Lehnerts von dem Verkaufserlös trotzdem gekauft.
'Autofahrer unterwegs' aus Wien und die Hitparade des
Saarländischen Rundfunks waren ihre Lieblingssendungen (S. 129).
Daß auf diese Weise und durch das Verfolgen der wöchentlichen
deutschen Sendung im Fernsehen keine kulturelle Tradition
weiterleben kann, liegt auf der Hand.
Das
Verhalten gegenüber rumänischen Mitbürgern erscheint im
Zusammenhang der auseinanderbröckelnden Minderheitenexistenz nur
als verständlicher Ausdruck der Selbsterhaltungsstrategie. Die
Rumänen gehören als notwendiges Übel zum Leben, werden aber in den
engen Kreis der Minderheit nicht wirklich aufgenommen oder
anerkannt.
Rosalia
Potje hatte einen rumänischen Mann geheiratet, um der Verschleppung
nach Rußland zu entkommen, was im Dorf über Jahre Anlaß zu
abschätzigen Bemerkungen gewesen war. Anton Lehnert bricht die
Beziehung zu seiner Tochter ab, als diese einen Rumänen
heiratet.
Entscheidungen entstehen
kaum noch aus freiem Willen, sondern viel eher als Gegenreaktion
auf alltägliche Einschränkungen. Susanne heiratet nicht aus Liebe,
sondern um die Auswanderungsformalitäten zu beschleunigen. Der
obligatorische Anstandsbesuch ihres künftigen Mannes Richard
Schmidt im Haus der Lehnerts, bei dem er um die Hand der Tochter
anhält, hat nichts von der Aufbruchstimmung eines
Neuanfangs:
'Kaffee
tranken nur Susanne, Richard und Maria. Die Eltern sprachen von den
verstorbenen Familienangehörigen, Richard und Susanne saßen
schweigend nebeneinander. Dann lud Anton zu einem Rundgang durch
Hof und Garten ein' (S. 308).
Der Kreis
der Hinterbliebenen wird immer enger, so eng, daß die Tochter durch
die Eheschließung denselben Namen tragen wird wie ihre Mutter als
Mädchen.
Man könnte
meinen, die Hauptgestalt des Romans sei Anton Lehnert. In der
zweiten Hälfte des Buches tritt aber seine Tochter Susanne in den
Vordergrund. 1951 in Wels geboren, studiert sie Germanistik und
Romanistik in Temesvar, um anschließend als Deutschlehrerin zu
arbeiten. Die biographischen Daten sind identisch mit denen des
Autors.
Trotz
unverkennbarer Realitätsbezüge ist der Roman viel mehr als eine
Sammlung von Biographien. Lippet gelingt durch seine brillante
Erzählkunst eine bemerkenswerte Leistung: Von den Seiten des Buches
verbreitet sich mächtig und dunkel die Stimmung des Untergangs.
Charaktere und Schicksale wirken in ihrer vergänglichen und
kurzlebigen Erscheinung wie Bewohner eines immer enger werdenden
Lebensraums, der schließlich verschwindet.
Am Ende des
Romans wird die hintere Küche vom Milizmann der Gemeinde als
Vertreter der Staatsgewalt betreten. Diese Handlung hat
symbolischen Wert: Sie kommt der Verletzung eines geschützten
Territoriums gleich. Damit hat sich jener magische Raum aufgelöst,
der das letzte Refugium der Minderheitenexistenz gewesen
war.
Ob die
Auswanderung, als letzter möglicher Ausweg ins Unbekannte, Rettung
und Leben bedeuten wird, ist zweifelhaft.
Das Gedicht
?Die regelmäßige Steigerung? aus dem 1994 erschienenen Band
Abschied, Laut und Wahrnehmung nimmt das unausweichliche
Ende vorweg:
?da war die
vergangenheit
so tief wie ein loch
da war die gegenwart
so tiefer wie ein loch
da war die zukunft
der abgrund?
Eine
Rezension von Gabriele
Weingartner
Erschienen
in literaturkritik.de » Nr. 2, Februar 2001 (3. Jahrgang) » Deutschsprachige Literatur
Erzählen
bis zum bitteren Ende
Über
Johann Lippets neuen Roman "Die Tür zur hinteren
Küche"
Dieses
Leben war ein Roman. So sagt man gelegentlich im Nachruf auf einen
Menschen, dessen Biographie in abenteuerlichen Kurven verlief.
Nicht zuletzt das Außergewöhnliche, ja Skandalöse, das manche
Lebenläufe auszeichnet, will man damit umschreiben: exotische,
erotische, skurrile Verwicklungen, die eine Frau oder einen Mann
der so genannten Normalität entreißen.
Umgekehrt aber eignen sich
solche Figuren auch bestens dazu, in Romanhandlungen integriert zu
werden. Nichts schätzen Leser mehr als heillose Wirren, die
fiktiven Personen widerfahren. Emotional ist man da sozusagen auf
der sicheren Seite, denn was hat ein Stück Prosa mit dem Leben zu
tun? So schlimm, wie es sich in manchen Romanen gebärdet, kann es
doch in Wirklichkeit gar nicht sein.
Wie aber reagiert man auf
einen Roman, von dem man weiß, dass er Geschichten verhandelt, die
so oder nur wenig anders tatsächlich passiert sind? Kann man sich
da als Leser gefühlsmäßig heraushalten? Verstellt die literarische
Fiktion die Sicht auf das wahre Leben, von dem da erzählt wird?
Oder verhindert literarische Wertschätzung gar die wahre
Empfindung?
Dies sind die Fragen, die
man sich während und nach der Lektüre von Johann Lippets Roman
"Die Tür zur hinteren Küche" immer wieder stellt. Der
rumäniendeutsche Schriftsteller, 1987 nach Heidelberg gekommen und
dort geblieben, hat in seinem neuen Buch in der Tat die Geschichte
seiner Familie erzählt. Dass es die pure Realität ist, von der er
berichtet, kann man auch an den Stationen seiner eigenen Biographie
erkennen, die darin getreulich wiederkehren: die Dorfkindheit, das
Germanistikstudium in Temeswar, Lehrerdasein und politische
Unterdrückung, schließlich die Ausreise.
Aber es ist doch zugleich
eine Art von Wirklichkeit, die alle Banater Schwaben erlitten, die
damals Ceau?escus Terrorsystem zu überstehen und ihre Sprache zu
retten versuchten, enteignet wurden, im Kollektiv arbeiten mussten,
sich "arrangierten" mit privat betriebenem Gemüseanbau,
ihre Familie damit durchbrachten und wenigstens eine Zeitlang ein
auskömmliches Leben hatten. Spätestens in den siebziger Jahren
jedoch war es vorbei mit dem ohnehin lasch gewährten
Minderheitenschutz, es verarmten und verkamen die Dörfer, aus den
ehemals wohlhabenden Bauern wurden Tagelöhner, die ihre Kinder,
Eltern und Großeltern verließen und in die Städte gingen. Oder sie
emigrierten nach qualvollem Warten und Zeiten der schlimmsten
Repression und ließen lange nichts von sich hören. Ziel war die
Bundesrepublik Deutschland, und dort führten sie dann ein völlig
anderes Leben.
Johann Lippet tut also
zweierlei: Er erzählt die Geschichte seiner eigenen Familie und
zugleich die Geschichte jener Volksgruppe, die von Maria Theresia
und Joseph II. im 18. Jahrhundert zur Kolonisation ins Land gerufen
worden waren. Er ist zugleich geschichtsbewusst und dennoch höchst
persönlich-privat, ohne das eine oder das andere zu verleugnen.
Denn die Eheleute Lehnert, die mit ihren vier Kindern aus dem
sicheren Österreich nach Rumänien zurückkehrten, weil ihnen dort
ein Haus und ein Stück Land versprochen wurden, sind ungemein
exemplarisch bis zu ihrem bitteren Ende. Und andererseits bieten
sie so immens viel Stoff für bizarre Geschichten, dass sie sich
fast zwangsläufig in höchst funktionale Romangestalten
verwandeln.
Hier schließt sich denn
auch der Kreis. Es gibt Menschen, die haben eine im Wortsinn
skandalöse Biographie, weil eine wahnsinnig gewordene Politik ihr
Leben völlig durcheinander brachte, und solche Lebensläufe gab es
häufig im vergangenen Jahrhundert. Hier hat die
Geschichtsschreibung noch viel aufzuarbeiten am unteren Ende der
Bevölkerungspyramide. Wenn aber ein Schriftsteller sich dieser
Zeitläufte annimmt und daraus einen Roman macht, so kann daraus
Literatur werden. Wenn der Leser Glück hat. Bei Johann Lippet ist
dies der Fall. Und seine persönliche Betroffenheit schärft
erfreulicherweise eher seinen Blick, als dass sie ihm
Sentimentalitäten gestattete.
Wenngleich er also
beträchtliche Sorgfalt darauf verwendet, die Sitten und Gebräuche
der Banater Schwaben so authentisch wie möglich zu schildern, ja
die längst nicht mehr existierende bäuerliche Lebenswelt zu
bewahren sucht, indem er sie fast emotionslos abbildet, tut er doch
viel mehr als dies. Wie Herta Müller, die gleichfalls die alten
Gefilde nicht verlassen kann, obwohl sie schon seit mehr als
zwanzig Jahren in der Bundesrepublik lebt, betreibt auch dieser
Autor Mentalitätsgeschichte, lässt Charaktere erstehen, die dadurch
lebendig werden, dass sie miteinander in Beziehung treten und dabei
Gefühle entfalten, deren gesellschaftliche Voraussetzungen längst
nicht mehr existieren.
Es sind breit gefächerte,
ritualisierte Familienbande, die Lippet akribisch, ja fast
gemächlich beschreibt, Feindschaften, Liebschaften, nachbarliche
Gepflogenheiten und Animositäten. Vettern, Basen, Tanten, Onkel,
Schwägerinnen und Schwäger, Freunde und Freundinnen. Lehrer,
Traktoristen, Unangepasste und Angepasste. Durch die Tür zur
hinteren Küche im Haus der Lehnerts im Dorf Wiseschdia kommen sie
alle, frohlocken und klagen, treiben Handel, tauschen
Klatschgeschichten aus, intrigieren, helfen einander in stiller
Opposition zum totalitären Staat, mit dem man nichts zu tun haben
will, solange er einen nur in Ruhe lässt.
Erst die Kinder und Enkel
dieser ersten Nachkriegsgeneration geraten unweigerlich in
Gegnerschaft zum Regime, haben mit Indoktrination, Zensur,
ständiger Gängelung zu kämpfen. Und sind doch auch längst nicht
mehr bereit, ihre persönlichen Bedürfnisse hinter jene festgefügten
Familienstrukturen zurückzustellen, die sie vor dem staatlichen
Zugriff emotional vielleicht noch eine Weile geschützt hätten.
Lippet ist allerdings weit davon entfernt, die Starrheit der
herrschenden Konventionen zu romantisieren. Familien sind bisweilen
gleichfalls totalitäre Systeme.
Aber er erzählt dennoch
bis in die kleinsten Verästelungen die Geschichte seines weit
verzweigten Clans, wobei das Ehepaar Lehnert und seine Kinder im
Zentrum stehen: unaufgeregt, ohne poetische Übertreibung, frei von
jeder auftrumpfenden Redseligkeit, in kurzen, geradlinigen Sätzen,
mit vielen knappen Dialogen, die die bäuerliche Redeweise wieder
aufleben lassen, die gleichfalls ohne Umschweife vonstatten ging.
Die Beschreibung von Mangel und Ärmlichkeit bedarf nicht der
Eleganz, sondern der Präzision.
Beeindruckt freilich wird
der Leser zunehmend von der stillen Beharrlichkeit, mit der der
Autor den einzelnen Lebensläufen nachgeht und dabei doch immer in
der gleichen inneren und äußeren Landschaft bleibt: Nie lässt er es
zu, dass jemand in der Bedeutungslosigkeit verschwindet, jedes
Familienmitglied ist gleich wichtig, keines geht
verloren.
So wird denn auch wirklich
erzählt bis zum bitteren Ende. Die drei Töchter Anton Lehnerts
gehen in den Westen, der Sohn stirbt unter mysteriösen Umständen an
der Grenze zu Jugoslawien, die Ehefrau an Krebs. Und auch der Bauer
selbst wird Opfer des Systems und bei einer Ausweiskontrolle
erschossen. "Leck mich am Arsch" sagt er zu dem Soldaten,
der ihn aufhalten will, wahrscheinlich war dies die einzige
widerständige Bemerkung in seinem ganzen Leben. Als Leser empfindet
man deshalb Respekt vor Anton Lehnert, aber auch Entsetzen vor der
grässlichen Leere, die sein plötzlicher Tod bedeutet.
Die Familie, die am Anfang
des Romans in ein neues Leben aufbrach, existiert nun nicht mehr.
Und Johann Lippet bietet keinen Trost an, womit man die Leere
füllen könnte - nur ein Buch, das sie für immer dem Vergessen
entreißt.
Eine Rezension von
Jan Koneffke
Erschienen
in "FREITAG - die Ost-West-Wochenzeitung", Nr. 42 vom
12.10.2001
Farre
Färse
ARCHÄOLOGIE DES VERLORENEN Die
Beschwörung einer untergegangenen Welt in einem Roman und neuen
Gedichten des rumäniendeutschen Autors Johann Lippet
Der rumäniendeutsche Autor
Johann Lippet, der 1951 im österreichischen Wels geboren wurde und
wenige Jahre später mit seinen Eltern nach Rumänien übersiedelte,
erzählt in seinem Roman mit dem unspektakulären Titel: Die Tür
zur hinteren Küche offenbar ein Stück autobiographischer
Geschichte. Im Buch heißt die Familie Lehnert und nicht Lippet,
aber die Überschneidungen mit der Lebensgeschichte des Autors sind
unübersehbar.
Die Eheleute Anton und Maria Lehnert teilen das Schicksal anderer
deutschstämmiger Familien, die der Krieg auseinandergerissen und
versprengt hat, sei es, dass sie als Soldaten der Wehrmacht in
Kriegsgefangenschaft geraten oder als Daheimgebliebene der
Kollaboration mit den Nazis bezichtigt zur Zwangsarbeit verschleppt
werden. Diese Geschichte skizziert Lippet freilich nur. Wenige,
protokollhafte Sätze widmet er den Motiven der Lehnerts, ins
Heimatdorf zurückzukehren: "In Rumänien war ein Dekret über
die Erleichterung der Repatriierung und die Amnestie der
Repatriierten erschienen, das Gastgeberland (Österreich) drängte
die Flüchtlinge nach dem Abzug der Besatzungstruppen, sich für eine
Staatsbürgerschaft zu entscheiden. Und sie hatten dem Drängen und
den Wunschvorstellungen derer von zu Hause nachgegeben: ...Arbeit
gebe es doch überall und schon wegen der vier Kinder sei es zu
Hause sicherer."
Vermutlich wird die Vor-Geschichte der dramatischen Verluste der
Kriegs- und Nachkriegszeit so kurz und bündig abgehandelt, weil sie
sich nicht mit dem Erfahrungshorizont des Autors decken. Der
interessiert sich für die Versagungen, kleinen Hoffnungen und den
schleichenden Verfall im Rumänien von den 50ern bis in die 80er
Jahre. Überhaupt ist er kein dramatischer, sondern ein äußerst
diskreter Erzähler. So beginnt der Roman beinahe idyllisch in der
Tradition der provinziellen rumänischen Dorfliteratur: "An
einem Oktobermorgen 1956 holperte ein Pferdewagen über den Feldweg
auf Wiseschdia zu."
Es ist auch kein soziologisches Interesse, das den Autor leitet.
Obwohl sein Buch plastisch darüber Auskunft gibt, wie man in den
deutschen Dörfern des Banat unter der Herrschaft der Kommunisten
lebte, wie der Alltag der Arbeit und sozialen Verhältnisse aussah,
erinnert die präzise Beschreibung der Realien immer wieder auch an
eine Beschwörung der untergegangenen Welt. Hier erzählt jemand
voller Trauer darüber, dass diese Welt nicht mehr existiert, und
dass die Sehnsüchte und Wünsche derer, die sie bevölkerten, nie in
Erfüllung gegangen sind.
Was dem Leser mitunter in seinem Realismus übertrieben scheint,
weil er es so genau gar nicht wissen will ("Das Schulgebäude
war L-förmig angelegt, bestand aus zwei Klassenzimmern, der
Lehrerwohnung und dem Pionierzimmer"), findet seine
erzählerische Legitimation im Angesicht des Verlustes, dessen
Chronist Johann Lippet ist. Auf den letzten Seiten des Romans
erfahren wir vom Zerfall des Dorfes, weil die Pressionen des
Staates und seine Misswirtschaft die Menschen nach Deutschland oder
sogar in den Selbstmord getrieben haben. "...das
Ansiedlerhaus...war ein von Gras überwucherter Erdhaufen...das
nächste Haus stand leer, der hintere Teil war eingestürzt...vom
Haus des Thomas Ritter standen nur noch die Grundmauern...der
Schulbus verkehrte nicht mehr. Treibstoffmangel."
Die genauen Beschreibungen erst machen es dem Leser möglich, die
erlittenen Verluste zu erahnen. Gleichzeitig birgt solche
Genauigkeit, die der Autor schon bei seinem Protokoll eines
Abschieds und einer Einreise von 1990 bewies, einige
erzählerische Risiken. Was nämlich im Protokoll gelang,
die Registratur ebenso absurder wie entwürdigender bürokratischer
Mechanismen, wirkt im Kontext einer Familien- und Dorfchronik auf
die Dauer ermüdend. So baut Lippet im ersten Teil des Romans
keinerlei Spannungsbogen auf, die Verwandtschaftsverhältnisse sind
kompliziert und werden immer unübersichtlicher, die einzelnen
Episoden, die von Kollisionen der Familienmitglieder untereinander
oder mit den Verhältnissen berichten, bleiben zu kleinteilig und
erzeugen bloß über eine oder zwei Seiten lang Leselust.
Im zweiten Teil des Buches konzentriert sich der Autor hingegen auf
die Geschichte der Studentin und späteren Lehrerin Susanne Lehnert,
der Tochter von Anton und Maria - man darf vermuten, dass Lippet
hier seine eigene Geschichte vor Augen hatte - und augenblicklich
beginnt der melancholische Stil zu fesseln. Denn hier wird nicht
detailreich re-konstruiert, sondern fließend erzählt.
Wenn Lippet im Roman dazu neigt, die untergegangene Welt möglichst
komplett wiederzuerschaffen, so gelingt die Beschwörung in seinen
Gedichten wesentlich überzeugender, weil sich dort die
Vergangenheit in den Vokabeln eines verschwundenen Lexikons frei
und assoziationsreich reflektieren kann. Schmerz und Glück werden
in Lippets Versen beredt, und dass beides zutiefst mit den
Erfahrungen aus Kindheit und Jugend in Rumänien verknüpft bleibt,
belegt schon das Anfangsgedicht. Ich wünschte die Zeit zurück,
als Unglück mich beflügelte,/ mich aufwiegelte...// Unmut kommt
auf, der lähmt den Tag. Wenn das Ich, das einst rebellierte,
zum Mut gezwungen war, so wird der "Unmut" der Gegenwart,
der den Begriff des alltäglichen Sprachgebrauchs als Verdrossenheit
oder Missmut bei weitem übersteigt (oder unterläuft), zum Anlass
wahrer Verzweiflung.
Lippet ist beileibe kein Nostalgiker. Er weiß und sagt es sehr
wohl, dass die Verzweiflung nicht nur der Gegenwart geschuldet ist.
Auch in der rumänischen Vergangenheit wurde die Sprache
zugerichtet. Der Verlust gehört zur europäischen Geschichte des 20.
Jahrhunderts, ist die Folge der brachialen Zuordnung von Identität
und Sprache, der alles Nichtidentische, der nationalen oder
ethnischen Definition nicht Ent-sprechende, zum Opfer fiel. Nicht
umsonst wählt Lippet im vielleicht schönsten Gedicht des Bandes
Auf der Pirsch die Metapher der Jagd, die ja nicht
zufällig eine Lieblingsbeschäftigung der sozialistischen Diktatoren
war, um von der Gewalt zu berichten, die der Sprache angetan wurde:
"da gehen wir hin Worthülsen im Mündungsfeuer".
Wenn Lippet in seinem großen Gedichtzyklus das verschwundene
Lexikon des Banater Alphabets noch einmal
durchbuchstabiert, dann eben im schmerzlichen Bewusstsein, dass er
auch er, der Dichter, sich "im eigenen Fadenkreuz"
bewegt. Umso anrührender wird das Durch-die-Wörter-Gehen zur
poetischen Archäologie des Verlorenen. Von A bis Z ruft Lippet mit
den Worten die vergangene Welt herauf, etwa unter dem Buchstaben F
wie "Fernsucht": aber weißt du noch wie du mir
Fickmühle beibrachtest/ und wie man Karten filiert/ und du feurio
riefst als es beim Nachbarn brannte. Das Banater
Alphabet aus der Ebene bei Hegyeshalom an der ungarischen
Grenze wird zum beeindruckenden Gesang, in dem die verlorenen Worte
noch einmal und ohne Gewalt zur Sprache kommen.
Johann Lippet: Die Tür zur hinteren Küche. Roman.
Verlag Das Wunderhorn, Heidelberg 2000, 280 S., 39,80 DM
Banater Alphabet. Gedichte. Edition Künstlerhaus im Verlag
Das Wunderhorn, Heidelberg 2001, 45 S., 26,- DM